Entstehung und Transformation persönlicher und kollektiver Existenzangst

Auf diesen Bild ist ein Mann mit einem Regenschirm am Ende eines Stegs im Nieselregen zu sehen und symbolisiert eine Situation im Prozess zur Heilung der Existenzangst

Inhalt

Die gegenwärtige Zeit ist von Unsicherheit und persönlicher und kollektiver Existenzangst geprägt. Niemand weiß, wie es morgen und in den nächsten Wochen und Monaten weitergeht. Das kann zu einer hohen psychischen Belastung im Einzelnen und in den Familien führen, der nicht jeder gewachsen ist.

Da in uns nur auftauchen kann, was schon da ist, macht es Sinn, sich als erstes zu fragen, ob die auftauchende Angst wirklich zum gegenwärtigen Augenblick gehört – oder in unsere Vergangenheit, wo

  • sie entweder in unserer Kindheit in verschiedenen Situationen entstanden ist, wir sie jedoch damals, weil wir sie als Baby, Kleinkind und Grundschulkind nicht verarbeiten konnten, verdrängt haben;
  • wir unverarbeitete und verdrängte Ängste unserer Eltern und Großeltern unbewusst als Kinder übernommen haben.

Existenzangst entsteht durch Erfahrung

Kindheitsangst bekommt aufgrund der Abhängigkeit des Kindes von den Eltern schnell den Charakter einer Existenzangst. Je kleiner das Kind, umso größer die Abhängigkeit und umso intensiver die existenzielle Angst, wenn die physische und emotionale Nähe der Eltern zum Kind fehlt. Auch aus erwachsener Sicht scheinbar banale Situationen können sich daher für ein Kind hochgradig bedrohlich anfühlen. Beispiel: Allein schon die Aussage von Eltern, sie würden jetzt gehen, wenn das Kind nicht mitkomme, kann im Kind zu Panik führen. Natürlich kommt das Kind dann angerannt, doch ist dies ein ungutes Spiel mit der Angst und kann enorme Konsequenzen für das Kind haben.

Leider sind kleine Kinder nicht in der Lage, über ihre Gefühle zu sprechen. Es ist Aufgabe von uns Erwachsenen, diese zu erkennen und dafür zu sorgen, dass sich unsere Kinder sicher und geborgen fühlen, bis sie alt genug sind und für ihren Schutz und ihr physisches und emotionales Wohlbefinden allein sorgen können.

Kindheitsängste haben also eine sehr starke Intensität und können, wenn sie aufsteigen, einen Erwachsenen regelrecht überfluten, sodass er sich handlungsunfähig und innerlich eng, klein, bodenlos, wie eingefroren oder gelähmt, haltlos, sprachlos, schwindlig und im Kopf wie eingenebelt fühlen kann. Die Realität wird nicht mehr klar gesehen. Obwohl JETZT, im gegenwärtigen Augenblick, in diesem Moment – keine existenzielle Bedrohung vorhanden ist, fühlt sich die Person mehr oder weniger bedroht und kann beispielsweise nicht mehr auf den Menschen zugehen, auf den sich die Angst richtet. Die Logik ist stark eingeschränkt oder auch gar nicht mehr vorhanden. Das führt zu Fehleinschätzungen einer Situation. Eine Person, die geerdet, in innerer Ruhe und mit klarer Logik handelt, handelt anders, als eine Person, die aus der Angst heraus handelt.

Existenzangst ist also eine sehr starke Energie und heftet sich wie ein ultrastarker Magnet an alles, um ihre Existenz zu sichern. Das ist gut bei Kindern fühlbar, die Angst haben: Sie klammern sich an oder drücken die Hände des Erwachsenen fester. Die Angst bzw. das Kind sucht Kontakt, Halt und Sicherheit, und wenn das durch den Erwachsenen gegeben ist, kann sich das Kind wieder entspannen. Ist der Erwachsene physisch nicht da – oder da, aber nicht präsent mit der Angst des Kindes –, dann fühlt sich das Kind weder beschützt noch sicher und gerät in Existenzangst, die ein kleines Kind nicht allein verdauen kann. Daher muss es die Angst wegdrücken oder abspalten, d. h., sie ist dem Kind und späteren Erwachsenen nicht bewusst.

Existenzängste entstehen also durch Erfahrung, z. B. wenn die kindlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Schutz und Sicherheit nicht oder nicht ausreichend erfüllt wurden.

Verdrängung von Existenzangst geschieht seit Generationen

Die Verdrängung von Existenzangst geschieht schon seit Generationen. Das wiederum bedeutet, dass wir als Menschheit ein riesiges Reservoir an verdrängter Angst in unserem persönlichen und kollektiven Unterbewusstsein und Unbewussten haben. Die Existenzangst steckt wie eine Möhre unsichtbar in unserem Seelen- und Menschheitsfeld. An der Oberfläche taucht sie – wie das viele grüne Möhrenkraut – in vielen verschiedenen Varianten auf: Angst zu sterben, Angst vor Verlust, Angst vor Krieg, Angst unterzugehen, Angst vor Krankheiten und Schmerzen, Flugangst, Tauchangst, Angst zu verhungern, Angst kein Geld zu haben, etwas nicht bezahlen oder kein Toilettenpapier oder Brot mehr kaufen zu können oder die Angst, zu kurz zu kommen. In meiner Arbeit zeigt sich, dass all die vielen Ängste in der Tiefe im Boden in der Möhre, in der Existenzangst wurzeln, die in der frühen Kindheit verdrängt wurde. Das macht es nicht leichter, sie zu meistern. Aber das Wissen darum kann uns, statt nach außen, nach innen zu unserer Angst schauen lassen, wann immer sie auftaucht, und in liebevoller Fürsorge für uns selbst nach Möglichkeiten suchen lassen, die Angst wieder in unsere Gesamtpersönlichkeit zu integrieren.

Wenn kindliche Ängste durch äußere Trigger im Erwachsenen wieder auftauchen, heftet sie sich, genau wie bei Kindern, aufgrund ihrer hohen magnetischen Kraft an alles und jeden – und lässt dort auch nicht von allein los. Selbst dann nicht, wenn es der Person mit dem, woran sie festhält, nicht gut geht. Das kann man z. B. in Paarbeziehungen sehen, wo Menschen, die sich aus gewalttätigen Beziehungen trennen wollen, dies manchmal nicht schaffen, weil die Existenzangst wieder auftaucht und sie weiter am Bekannten festhalten lässt. Das Unbekannte macht Angst. Oder die Beziehung zu dem Menschen, der triggert, wird gemieden, ebenfalls um der Angst aus dem Weg zu gehen. Eine nachhaltige Lösung ist das nicht, weil die Angst nicht transformiert wird, wenn ich ihr aus dem Weg gehe. Ich bleibe an die Person, die ich von mir wegschiebe, weiterhin gebunden. Mit all den Konsequenzen, die das für das weitere Leben und alle weiteren Beziehungen hat.

Auf gleiche Weise wie bei den Individuen halten wir als Gesellschaft auch an überlebten und verkrusteten Gesellschaftsstrukturen fest. Das ist aus meiner Sicht einer der wesentlichsten Gründe, warum so schwer ist, Dinge, die gesellschaftlich schon als ungesund und überholt erkannt wurden, zu verändern. Die tiefsitzende und meist unbewusste Existenzangst verhindert das.

Zu Eis gefrorene Angst taut in der Selbstliebe wieder auf

Auflodernde Existenzangst kann von einem Erwachsenen also nicht einfach losgelassen werden – sie gehört, zumindest derzeit noch, zu bestimmten inneren Entwicklungsstufen unseres Menschseins dazu. Wir können sie nur wandeln. Angst ist Energie und Energie ist von einem Zustand in einen anderen wandelbar. Die zu Eis gefrorene Angst kann in der Selbstliebe auftauen und es entsteht wieder klares, fließendes Wasser. Daher ist die gegenwärtige weltweite Ausnahmesituation eine riesige Chance zur Transformation und Integration von ehemals verdrängten, jetzt aber in vielen erwachsenen Menschen massiv hochdrückenden Ängsten.

Kindliche Angst, die von einem Erwachsenen gesehen und gefühlt wird, wandelt sich in Sicherheit. Und das Misstrauen, das mit der Angst Hand in Hand einhergeht, wandelt sich in Vertrauen. Das ist also ein Parallelprozess. Angst und Misstrauen bauen sich ab, Sicherheit und Vertrauen auf.

Ängste in der Meditation transformieren

Wie du deine Meditations- oder Kontemplationspraxis gezielt nutzen kannst, um Ängste zu transformieren, zeige ich am Beispiel der Verlustangst:

  • Du gehst in einen meditativen Zustand. Im entspannten Zustand holst du dir die Person, mit der deine Verlustangst in der Gegenwart verbunden ist, auf den inneren Bildschirm, stellst sie ein paar Meter vor dich hin und schaust ihr in die Augen. Wenn Du die Angst fühlst, mach dir bewusst, dass es Deine Angst ist, da sie ja in dir auftaucht. Die andere Person löst das Gefühl nur in dir aus. Das gilt übrigens auch für alle anderen Gefühle wie z. B. Trauer, Wut und Scham.
  • Mit deinem Bewusstsein holst du die Angst, die sich wie ein Krake an die andere Person anheftet, zu dir zurück, statt sie weiterhin auf die andere Person zu richten.
  • Wenn du die Angst gut bei dir fühlen kannst und die vor dir stehende Person von deinem Angstgriff gefühlt frei ist, kannst du die Person langsam gehen lassen. Das allein entspannt meist schon die Beziehung, wenn die Angst nicht mehr der anderen Person zugeordnet ist.
  • In einem weiteren Schritt stellst du deine Angst dorthin, wo vorher die andere Person stand, und schaust liebevoll und mitfühlend auf sie – und am besten in die Augen. Wie reagiert die Angst auf deine liebevolle Zuwendung? Schaut die Angst dich an? Oder schaut sie zu Boden? Fühlt sie deine Herzenszugewandtheit? Wie antwortet die Angst auf dich? Mit Abwendung? Oder Zuwendung? Mit einem Lächeln? Oder mit Wut? Möchte sie auf dich zukommen? Oder will sie von dir weg? Hat die Angst Angst vor dir? Oder vertraut sie dir?
  • Und was geschieht in dir, wenn Du der Angst in die Augen schaust und siehst, wie die Angst sich mit dir fühlt? Fühlst du eine Verbindung zwischen dir und der Angst? Ist da Nähe zwischen dir und der Angst? Fühlt es sich warm und offen an zwischen euch beiden? Oder kühl und distanziert?
  • Wenn du in Verbindung mit der Angst bist und die Angst sich von dir gesehen fühlt, wird sie dir antworten. Und du wirst die Antwort deutlich verstehen. In dem Moment geschieht Wandlung, Heilung und Integration. Nach einer solchen Erfahrung ist nichts mehr, wie es vorher war. Das Feld der Angst möchte gesehen werden, braucht unser Herz, unsere Liebe. Unser verantwortungsbewusstes Handeln.

Diese innere Arbeit kannst du immer machen, wenn Angst in dir auftaucht. Solltest du allein damit nicht weiterkommen, wäre es eine Überlegung wert, sich professionelle Hilfe zu nehmen.

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Saskia John

Über die Autorin:

Saskia John wurde in der ehemaligen DDR geboren und studierte dort Veterinärmedizin. Nach der Wende absolvierte sie eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Seit 1994 arbeitet sie in ihrer eigenen Praxis. Sie unterstützt Menschen auf ihrem persönlichen Weg zu Heilung und spirituellem Wachstum.
Dabei greift sie auf langjährige Erfahrung in der Trauma Heilung, Inneren-Kind-Arbeit und in der Begleitung von Dunkelretreat-Prozessen zurück. Ihre Arbeit ist geprägt von Reisen nach China und Japan, die sie mit fernöstlichen Heilmethoden in Berührung kommen lassen.
Das Dunkelretreat ist ihr Herzens- und Forschungsprojekt. Sie selbst verbrachte insgesamt 62 Tage in absoluter Dunkelheit. „26 Tage Dunkelheit – Ein Bewusstseins-Experiment“ ist ihr zweites Buch.

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