Einführung
In diesem Beitrag teile ich die eindrückliche Geschichte eines jungen Mannes, der von einer lähmenden Angst gefangen war – obwohl ihm aus ärztlicher Sicht nichts fehlte. Seine Mutter suchte verzweifelt nach Hilfe und entschied sich, Unterstützung in einer Familienaufstellung zu suchen. Dabei kam eine tief verborgene emotionale Wunde ans Licht: Der fehlende Vater hatte im Leben des jungen Mannes eine schmerzhafte Leere hinterlassen, die sich wie ein roter Faden durch die Generationen zog.
Die Aufstellung offenbarte, dass nicht nur der Sohn, sondern auch die Mutter und ihre Ahnen in unbewusste generationsübergreifende Dynamiken verstrickt waren: Ein fehlender Vater war die gemeinsame Konstante. Durch das bewusste Erkennen dieses Zusammenhangs wurde der erste Schritt zur Heilung für die Familie möglich.
Die Ausgangssituation
Eine Mutter sitzt vor mir und schaut mich mit wachem Blick an. Sie berichtet von ihrem Sohn, der einst lebensfroh, kontaktfreudig und voller Pläne für die Zukunft war. Letztes Jahr beendete er die Schule und begann mit großer Vorfreude eine Bäckerlehre.
Doch gleich zu Beginn der Ausbildung bekam er eine Blasenentzündung. Kurz darauf kamen quälende Ängste hinzu. Zwei Wochen später war er nicht mehr in der Lage, zur Ausbildung zu gehen. Die Angst hatte ihn völlig im Griff. Seitdem verbringt er die meiste Zeit zu Hause. Die Welt draußen scheint für ihn eine einzige Bedrohung zu sein. Alles macht ihm Angst.
Selbst kleine Aufgaben, die seine Mutter ihm zuteilen möchte – wie etwa einen Einkauf zu erledigen – lehnt er ab. Der Mut, sich den einfachsten Dingen zu stellen, fehlt ihm.
Aus ärztlicher Sicht wurde alles abgeklärt – die Blase ist gesund. Auch im Lehrbetrieb gab es keine Anzeichen von Konflikten.
Die Ausbildung wurde zwischenzeitlich abgebrochen.
Die Mutter fühlt sich hilflos. Es bedrückt sie sehr, ihrem Sohn nicht helfen zu können. Deshalb hat sie sich entschlossen, eine Aufstellung zu machen. Sie möchte verstehen, was hinter den Ängsten ihres Sohnes steckt und wie sie ihn auf seinem Weg zurück ins Leben unterstützen kann.
Die Aufstellung
Wir stellen auf: Mutter, Vater, Sohn, Bäckerei.
Die Mutter steht nah, ungefähr zwei, drei Schritte schräg links hinter dem Sohn, der halb der Bäckerei zugewandt ist und halb an der Bäckerei vorbeischaut. Der Vater steht weit entfernt mit dem Rücken zu seiner Frau und seinem Sohn. Ich bitte die Mutter, die Familienkonstellation so zu stellen, wie sie war, bevor ihr Sohn seine Ausbildung begann. Danach bitte ich sie, sich in die Zeit zurückzuversetzen, als ihr Sohn noch ein Baby war.
Während die Mutter sich auf die verschiedenen Phasen einlässt, erzählt sie, dass ihr Mann von Anfang an keine Bindung zu ihrem gemeinsamen Sohn aufbauen konnte. Seit seiner Geburt war er emotional distanziert, und ihr gegenüber verhielt er sich zunehmend aggressiv. Im Laufe der Zeit wuchs ihre Ablehnung ihm gegenüber, und sie zog sich immer mehr in die Beziehung zu ihrem Sohn zurück, bis sie ihn schließlich nur noch als „meinen“ Sohn empfand.
„Welche Gefühle mag Ihr Sohn in dieser angespannten Zeit gehabt haben?“, frage ich. Ohne zu zögern, antwortet sie: „Angst.“ Sie habe immer gewollt, dass ihr Sohn auch nach der Trennung Kontakt zum Vater hält, doch der Junge verweigerte dies. Bis heute besteht kein Kontakt zwischen Vater und Sohn, obwohl sie es sich sehr wünscht.
Ich erkläre ihr, dass es häufig vorkommt, dass ein Kind den abgelehnten Elternteil ebenfalls zurückweist, um sich mit dem Elternteil, bei dem es lebt, sicher zu fühlen. Dieses Verhalten ist oft unbewusst. Es deutet darauf hin, dass der Sohn dies tut, da er vor Beginn seiner Ausbildung neben ihr stand – am Platz des Vaters, statt an seinem eigenen Platz.
Obwohl der Junge seinen Vater tief im Inneren liebt, hat er – ebenso wie seine Mutter – auch Angst vor ihm. Eine emotional warme und sichere Beziehung zum Vater fehlte von Anfang an. Die Mutter war und ist seine wichtigste Bezugsperson, von der er noch abhängig ist. Diese Abhängigkeit verstärkt die existenzielle Angst, auch die Zuwendung der Mutter zu verlieren, wenn er den Vater liebt, den die Mutter ablehnt.
Solche starken Gefühle wie existenzielle Angst sind für ein Kind eine enorme emotionale Überforderung, sodass diese oft verdrängt wird, um sie zu bewältigen.
Doch in späteren Lebensphasen kann die verdrängte Angst, durch bestimmte Ereignisse getriggert, wieder an die Oberfläche kommen – wie es bei ihrem Sohn geschah, als er mit seiner Ausbildung begann.
Enthüllung des inneren Konflikts
Die Mutter schaut mich nachdenklich an. Fast beiläufig erwähnt sie, dass der Vater ihres Sohnes ein Bäcker war und die meiste Zeit in seiner Bäckerei verbracht hat, während sie sich um alles allein kümmern musste.
Ich frage, ob sie den Zusammenhang erkennen könne. Sie schüttelt den Kopf. Also frage ich weiter: „Könnte es sein, dass die Angst, die Sie und der Sohn damals empfunden haben, als er klein war, jetzt bei Ihrem Sohn wieder an die Oberfläche kommt?“
Der Sohn hat denselben Beruf gewählt wie sein Vater, und durch diese berufliche Verbindung wird er erneut mit dem Thema seines Vaters und der einst verdrängten Angst konfrontiert.
Auch bei der Mutter scheint eine alte Angst aus der Zeit vor und nach der Trennung wieder aufzutauchen. Durch ihren Sohn wird sie erneut mit diesen Gefühlen konfrontiert. Sie sitzt jetzt wieder mit ihrem Sohn zu Hause, allein – wie damals. Es wirkt auf mich, als sei sie erneut überfordert. Der Unterschied ist, dass ihr Sohn heute fast erwachsen ist. Doch sein Verhalten ähnelt dem eines kleinen Kindes, das Schutz sucht, indem er nah bei der Mutter bleibt.
Ich frage sie vorsichtig, ob sie die Trennung von dem Vater ihres Kindes schon verarbeitet hat. Plötzlich steigen ihr Tränen in die Augen, und der alte Schmerz kommt an die Oberfläche. Ich gebe ihr Zeit, um das aufkommende Gefühl wahrzunehmen.
Dann frage ich nach ihrer eigenen Beziehung zu ihrem Vater. Sie hält kurz inne und blickt mich an, als müsste sie sich erst an ihn erinnern.
„Mein Vater?“, murmelt sie nachdenklich. „Der war auch nie da.“
Die transformative Wende
Ich bitte sie, ihre Herkunftsfamilie aufzustellen. „Fällt Ihnen etwas auf?“, frage ich sie. Sie schüttelt den Kopf.
Daraufhin beschreibe ich, was ich sehe: „Die Konstellation in ihrer Herkunftsfamilie ähnelt stark der zwischen Ihnen, dem Vater Ihres Kindes und Ihrem Sohn. Sie stehen als Kind neben einem Elternteil, neben ihrer Mutter, während Ihr Vater abseits steht. Die Männer in Ihrer Familie scheinen außen vor zu sein.“
Sie sinniert vor sich hin, dass der Vater ihrer Mutter, also der Großvater der Klientin, verstorben ist, als ihre Mutter fünf Jahre alt war. Die Mutter der Klientin wuchs also ohne Vater auf – ebenso wie die Klientin und ihr Sohn.
Wenn die Männer fehlen, mangelt es an Schutz und Unterstützung für die Frauen – und auch für die Kinder, da die Frauen mit allem allein dastehen und oft überfordert sind. Ein fehlender Vater löst somit Angst in den Kindern aus.
Die Klientin nickt verstehend, dreht spontan ihre Figur zum Vater des Sohnes um und zieht sie ärgerlich ein Stück näher an ihn heran.
Die Familienaufstellung zeigte klar, dass ein fehlender Vater nicht nur das Leben des jungen Mannes, sondern auch das seiner Vorfahren stark beeinflusst hatte.
Ich rate ihr zum Abschluss der Aufstellung, die Beziehung zum Vater des Kindes ins Reine zu bringen, sodass er innerlich wieder neben ihr stehen kann, genau wie am Anfang ihrer Liebesbeziehung. Nicht als Mann, aber als Vater des Kindes – geachtet und gewürdigt, so, wie er ist. Das würde den Sohn stabilisieren.
Da sie, wenn sie sich dem Vater des Sohnes wieder zuwendet, an ihre Gefühle kommen wird, die mit ihrer eigenen Kindheit zu tun haben, wird sie auch das Thema zu ihrem Vater und ihrer Mutter tiefer anschauen und im Herzen verarbeiten müssen.
Auch für den Sohn wäre es hilfreich, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, um seine Beziehung zu seinem Vater zu heilen. Sie verstand und verabschiedete sich.
Ich hatte ein gutes Gefühl, dass sie mit der Zeit die Schritte in ihrem Herzen gehen wird.
Fazit – Fehlender Vater als Ursprung emotionaler Wunde
Väter sind wichtig. Ein fehlender Vater kann tiefe Spuren hinterlassen, die sich auf das Selbstvertrauen und die Entwicklung des Kindes blockierend auswirken können.
Familienaufstellungen haben die Kraft, diese unbewussten Blockaden ans Licht zu bringen, die uns daran hindern, frei und selbstbestimmt zu leben.
Dabei Muster zu erkennen und zu durchbrechen, führt zu tiefgreifender innerer Heilung bisher unbewusster emotionaler Wunden und verhindert, dass sich ungesunde familiäre Dynamiken generationsübergreifend wiederholen.
In meinem Video Die Auswirkungen fehlender Väter | Familienaufstellung kannst du die Aufstellung noch einmal nachvollziehen:
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